Echos der Vergangenheit

James rutschte in seinem Stuhl zurecht. Das Bild auf dem Monitor vor ihm war verschwommen, aber die Stimme war davor gut zu hören. Er hatte noch nie verstanden, warum die Technik entweder das eine oder das andere hinbekam, aber selten beide Sachen zusammen. Noch dazu hier, in den Randzonen. War es hier nicht wichtig, guten Empfang zu haben. Aber es war wie es war, manchmal gut, manchmal nicht. Auch wenn das „nicht“ überwog.

„Und es ist wirklich so kalt da?“, fragte die Frau auf dem Bildschirm.
„Allerdings“, bestätigte Hurdel. „Heute war es immerhin der wärmste Tag seit ich hier eingetroffen bin. Nur – 1° Celsius.“
„Das ist… kalt.“
Hurdel kniff die Augen zusammen. Das Bild wurde nicht besser. Ein waberndes Grau.
„Du solltest Dir vielleicht eine Brille verschreiben lassen“, meinte Ery.
„Nein, es ist das Bild. Hast Du auch so einen schlechten Empfang?“
„Klarer Ton, aber das Bild ist… sieht aus, als ob Ameisen tanzen.“
James musste lachen. Zum einen passte die Beschreibung sehr gut, zum anderen war es ein amüsanter Gedanke. Er konnte erahnen, dass Ery die Mundwinkel leicht nach oben zog. Ein wirkliches Lächeln oder gar ein Lachen war es nicht.
„Aber erzähl mal, was machst Du denn da am Rand der Zivilisation?“, fragte sie.

Hurdel seufzte. Wenn er das so genau wüsste. ASTROCOHORS musste sich neu strukturieren. Mit der Blockade des Sonnensystems waren die Haupteinrichtungen auf einen Schlag weg. Zum Glück hatte sich ein Großteil der Führungsebene gerade zu einer Konferenz auf der PORT MANTEAU befunden. Jetzt versuchten sie gerade, dort ein neues Hauptquartier zu errichten.
„Auf Deiner Station?“, hakte Ery nach. „Und warum bist Du nicht dort?“
„Das weiß der Geier“, antwortete James. „Die Ausbildung der Raumflottenkadetten muss auch neu strukturiert werden. Wir haben ja keine Akademie mehr. Also hat man uns auf eine Mission hier raus geschickt. In den Eiswall.“
„Du bist nicht zu beneiden.“
„Danke. Und wie sieht es bei Dir aus?“
„Hm.“
Hurdel versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Aber er spürte, dass etwas nicht stimmte. Und zwar ganz gewaltig nicht stimmte. Er kannte Ery schon so lange und wusste, eine knappe Antwort und ein langes Schweigen bedeutete nichts gutes.
„Manche Leute haben mehr Einfluss, als gut ist“, sagte sie schließlich.
„Das ist nichts neues“, entgegnete James. „Meinst Du jemand bestimmtes?“
„Ja. Den Captain.“
Hurdel verzog den Mund. Welchen Captain? Es gab viele Captains. Es sei denn…
„Moment!“, entfuhr es ihm, von einem Geistesblitz geblendet. „Du meinst… den Captain… der eigentlich keiner mehr ist?“
„Enquis, genau. Ron Enquis. Was hast Du mitgekriegt?“
„Ich war etwas erstaunt, aber Admiral Bareo hat ihm eine Feierstunde in der Militärbasis Tam M’Rii gegönnt. Zu seiner Verabschiedung. Obwohl er schon seit langem nicht mehr im Dienst war. Nicht entlassen, halt außer Dienst.“
Hurdel behielt einen Teil der Geschichte für sich. Trotz des schlechten Bildes konnte er die Traurigkeit in Erys Augen erkennen. Es war etwas, das durch jede Bildstörung hindurch ging und ihn tief berührte. Wenn er die ganze Geschichte erzählte, fürchtete er, würde das Ery noch mehr belasten. „Das war ja das Problem, wie Du Dich erinnerst“, sagte sie. „Es gab keine Gesetze, die zu dem passten, was er getan hat. Obwohl es falsch war, das wissen wir alle. Dieses… ‚aus dem aktiven Dienst nehmen‘ war ein Kompromiss und ein Kotau vor der Familie Enquis.“
„Was auch immer. Du weißt, ich kenne Kapitänin K’Mon von der EUROPE. Sie war zur Feierstunde dort. Und sie war auch überrascht, wegen der Feierlichkeit und allem. Und was hat das mit Dir zu tun?“
„Offenbar scheint da vor Enquis‘ Verabschiedung noch was gelaufen zu sein. Jedenfalls wurde mir mitgeteilt, dass ich in zwei Monaten aus dem aktiven Dienst ausscheiden muss.“

Der Captain glaubte, sich verhört zu haben. „Was!?“, brauste er auf. „Aus dem aktiven… warum, beim fliegenden Spaghettimonster?“
„Um es kurz zu machen, das ist der Grund“, war ihre Antwort. Sie hielt einen PDA hoch. Hurdel konnte zwar nicht lesen, was auf dem Bildschirm stand, aber es war jede Menge Text. Ery fuhr mit dem Finger über die Oberfläche des Geräts und der Text setzte sich in Bewegung. Jede Menge Buchstaben, Worte, Sätze… „Das ist meine Dienstakte“, hörte er sie sagen. „Die ganze Zeit, die ich bei ASTROCOHORS war, die ganzen Jahre. Sie haben alles das, was Enquis mir zum Vorwurf gemacht hat, wieder reaktiviert. Und zusammen mit den letzten Vorkommnissen…“
„Moment!“, unterbrach Hurdel. „Mit der AURORA? Das wirft man Dir vor?“
„Ja. Macht ja nix, dass eine Bande Aufständischer meint, mal eben die Demokratie in der Planetenunion abschaffen zu wollen, nein, dass die AURORA Schaden davongetragen hat, das ist der Knackpunkt! War ja klar!“
„Weißt Du, was merkwürdig ist? Ich habe nichts davon mitbekommen. Man hat auch keine Aussage oder dergleichen von mir geholt. Wie kann das sein? Ich war doch auch unmittelbar dabei.“
„Laut diesem Schriftsatz wurden lediglich die Protokolle begutachtet“, erklärte Ery. „Und da wurde eindeutig festgestellt, dass meine eigenmächtigen Entscheidungen zu der Situation geführt haben. Diese Verfehlungen hätten dazu geführt, dass die Löschung der Tatbestände, die auf Captain… Sorry, Ex-Captain Enquis zurückzuführen sind, zurückgenommen wurde. Und damit bin ich für die Flotte nicht mehr haltbar.“
James sank in seinen Sitz zurück. Ihm war, als hätte ihn eine Keule mitten ins Gesicht geschlagen. War war nur los? Wie konnte das zugehen? Noch dazu, da klar war, dass die Familie Enquis mit dem Verräter Faku paktiert hatte! Aber ja, Enquis hatte die Bürokratie der Flotte zu seinem Vorteil genutzt. Trotzdem war da immer noch eine Ungereimtheit: Warum hatte es Hurdel nicht betroffen? Hatte Enquis nicht genauso viel Grund, ihm an den Karren zu fahren? Oder… lauerte da noch eine Gefahr in der Dunkelheit?
„Nimm es mir bitte nicht übel“, hörte er Ery sagen, „aber ich bin… ich kann… ich mag im Moment nicht so viel reden. Lass uns für heute Schluss machen.“
„Natürlich“, seufzte Hurdel. „Aber Du weißt, wenn was ist – ich bin da. Auch wenn im Moment Lichtjahre zwischen uns liegen. Ich würde Dich echt mal wieder gern treffen.“
„Danke Dir“, sagte sie. „Pass auf Dich selber auf, ja?“
„Mach ich. Du aber auch!“
„Klar!“

Die Bildübertragung nach Juvj war nicht die beste.

Der Bildschirm vor Hurdel wurde dunkel. Es war ein großer Bildschirm, deswegen war das mit dem schlechten Empfang nicht ganz so anstrengend für die Augen. Hurdel saß auf dem Sofa im Wohnzimmer seiner Habitateinheit. Das musste er jetzt erstmal verdauen. Was lief da nur? Hatte man nicht alle Führungsoffiziere, die mit Faku paktiert hatten, von ihren Posten entfernt? Hatte die Familie Enquis noch Seilschaften? Würde auch er betroffen sein? Dennoch, am meisten entsetzte ihn das, was Ery erzählt hatte. Er erinnerte sich, wie er als Kadett vor über 30 Jahren angefangen hatte. Ein holpriger Anfang, aber es schien auch der Beginn eines neuen Zeitalters zu sein. Alles war so aufregend. Die Raumflotte eine ehrbare Organisation, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzte. Doch während der letzten 30 Jahre musste er feststellen, dass dieser wunderschöne Baum von Innen her verfault zu sein schien. Nein, tadelte er sich selbst. Wenn er verfault wäre, gäbe es keine Hoffnung mehr. Dann würde man ihn fällen müssen. Das kam nicht in Frage! Aber es musste etwas unternommen werden. Nur was?

„Computer“, sprach er die A.I. seines Quartiers an, „kannst Du… so eine Art Überwachung einrichten?“
„Bitte spezifizieren“, antwortete die A.I. „Was für eine Art Überwachung?“
„Sagen wir mal, falls jemand meine Dienstakte einsehen möchte.“
„Eine sehr ungewöhnliche Anfrage, aber das ist möglich.“
„Dann mach das bitte. Und gib mir sofort Bescheid, wenn es geschieht, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.“
„Ich gebe Bescheid, sobald jemand Ihre Dienstakte einsehen möchte, Captain.“
„Danke. Und jetzt brauche ich eine Aufenthaltsortsbestimmung, falls das möglich ist…“